Ohne Euch

Ohne Euch

Freitag, 2. Juni 2017

Dein letzter Weg

Seit zwei Monaten schiebe ich es jetzt schon vor mir her, das hier zu schreiben. Ich gebe zu, die letzten Wochen und Monate ging es mir gar nicht gut. Es kommt wohl mal alles raus, was wir in den letzten 12 Jahren erlebt und durchlebt haben. Und ich merke, dass ich meine Grenzen überschritten habe und dass es dieses Mal wesentlich schwerer wird, wieder zu einem "normalen" Alltag zurück zu finden. Ich werde viel Zeit und auch Hilfe brauchen, und beides nehme ich mir. Gemeinsam mit eurem Papa, dem es auch nicht gut geht. Das Schicksal hat uns in die Knie gezwungen, aber wir werden wieder aufstehen, irgendwann, neu gestärkt. 

Der Grund für diesen Eintrag ist dein letzter Weg, den wir am 30. März gemeinsam mit dir gegangen sind. Wir schon bei deinen beiden Geschwistern fand von unserem Krankenhaus eine Sternenkinder-Gedenkfeier statt. Und weil deine beiden Geschwister dort auch ihr Erdenbettchen haben, wollten wir natürlich, dass auch du dort dein Bettchen bekommst.

Wir hatten beide große Angst vor diesem Tag. Wir wussten so genau, was uns erwartet und wir wussten beide, wie schwer und schmerzhaft es werden würde. Und es war sofort wieder genau, wie bei den ersten Malen. So bald wir dort ankamen und ich die Trauerhalle sah und dieses Schild "Sternenkinder-Gedenkfeier" musste ich weinen. Dieser Ort ist für mich so voller Schmerz und Trauer, dass ich es sofort körperlich und seelisch spüre. Diese Gedenkfeier wird, wie schon seit Jahren, von einem katholischen und evangelischen Geistlichen zusammen gemacht. Die beiden begrüßten alle, die ankamen und warteten und hatten für alle ein tröstliches Wort. Einer von beiden kam dann auch zu uns, und als ich ihm erzählte, dass wir schon zum dritten Mal da waren, und unser drittes Kind, dieses Mal eine Tochter beerdigen würden, war er zutiefst gerührt und als ich wieder weinen musste, kamen auch ihm die Tränen. Diese kleine Geste, diese Reaktion berührte mich so sehr, es ging dort nicht nur um Fehlgeburten, es ging um jedes einzelne Kind, was dort betrauert wurde.

Die Gedenkfeier war wieder sehr schön, es wurden Texte vorgelesen. Dann haben wir wieder Teelichter angezündet, um euch den Weg zu leuchten, und diese wurden auf Sterne auf dem Boden gestellt. Eine Frau spielte "Somewhere over the Rainbow" und euer Papa und ich mussten immer wieder so sehr weinen. Du hast in diesem Moment so unendlich gefehlt. Warum musste ich dort wieder sein, statt mich auf dich freuen zu dürfen? Womit haben wir so viel Leid und Schmerz nur verdient?

Als die Gedenkfeier zuende war, sind wir in einem Trauerzug über den Friedhof zu den Sternenkinder-Gräbern gezogen. Ich musste wieder daran denken, wie wir das erste Mal dort lang gegangen waren. Und wie ich damals dachte, dass wir doch da so falsch waren und warum man sein Kind so verlieren und dort beerdigen musste. Auch jetzt habe ich mir nichts mehr gewünscht, als einfach aus diesem Alptraum zu erwachen. 

Als wir bei den Gräbern ankamen, war an einem Grabstein euer Bettchen ausgehoben. Es lag neben dem, wo Pünktchen liegt. Und auf dem Grab lag immer noch das Herz, was wir vor vier Jahren dort gelassen hatten. Das gab mir irgendwie ein gutes Gefühl, es war die ganze Zeit bei euch gewesen. Die Sonne schien, als würdest du uns etwas sagen wollen. Es wurden noch einige Worte gesprochen und dann wurde die Urne in dein Bettchen hinab gelassen. Da war er also da, der Zeitpunkt, Abschied zu nehmen. Wir sind zu dir gekommen und haben uns von dir verabschiedet. Wir hatten einen kleinen Stein mit einem Seestern und mit deinem Namen darauf dabei, den konnte ich auf den Grabstein legen. Dann mussten wir uns verabschieden und dich in deinem Erdenbettchen zurück lassen. Du bist dort nicht alleine, deine Geschwister sein bei dir. Und oben im Sternenkinderhimmel geht es euch gut, da tobt ihr mit Leo über die Wolken und wartet darauf, dass wir uns eines Tages wieder sehen. Für uns ist es eine so unendlich lange Zeit, für euch nur ein Wimpernschlag.

Als wir den Friedhof wieder verließen, fühlte ich mich irgendwie erleichtert. Der Schmerz war nicht weniger, aber ich war dennoch erleichtert, diesen Schritt getan zu haben. Es war ein Schritt mehr auf unserem Trauerweg. Und auch heute, dein eigentlicher Geburtstermin ist ein solcher Schritt. Bis jetzt war da immer noch dieser Gedanke, wie weit ich wäre, und ob du schon da wärst. Jetzt ist auch diese Schwangerschaft endgültig vorbei, auch in meinen Gedanken. Und du bleibst für immer dort oben, so weit entfernt. Immer noch ertappe ich mich, dass ich kurz denke, dass vielleicht doch alles gut ist. Aber sofort werde ich von der Realität eingeholt. Du bist fort und kommst nie wieder zu mir zurück. Damit muss ich leben, irgendwie. Bis wir uns dann eines Tages wiedersehen.